1 · Schritte im Sand
Fynn erwachte.
Er lag auf dem Rücken. Der Untergrund war unangenehm hart. Und uneben.
Der Kopf brummte und in seinem Hirn tobte das Chaos. Was war passiert?
Langsam öffnete er die Augen. Das grelle Licht eines grünblauen Himmels schmerzte ihn und er schloss sie wieder.
Das Rauschen eines Raumschifftriebwerks aus der Ferne wurde leiser.
Er setzte sich auf und blinzelte. Allmählich gewöhnte er sich an die Helligkeit.
Eine trockene Einöde erstreckte sich bis zum Horizont, hin und wieder unterbrochen von violetten knollenartigen Pflanzen.
Nur ein leichter Wind war zu hören.
Fynn betastete den Boden. Sand kribbelte zwischen den Fingern.
Tief atmete er durch die Nase ein. Es roch nach ...
Ja, wonach eigentlich? Er kannte den Geruch vieler Atmosphären. Jede war ein wenig anders. Aber hier war er offenbar niemals zuvor gewesen. Es roch etwas rauchig, nach Kohle und trockenem Boden.
In Bruchstücken kehrte die Erinnerung zurück.
Sie hatten sich heftig gestritten, er und die Frau. Dann war er eingeschlafen. Hatte sie ihn etwa betäubt? Irgendwann musste sie ihn aus dem kleinen Raumschiff gezogen haben.
Monatelang hatten sie den Sektor durchstreift. Wie er war sie talentiert im Kartenspiel. Es war eine tolle Zeit gewesen, doch in den letzten Tagen hatte es nur noch gekriselt.
Anscheinend hatte sie ihn rausgeworfen und das Schiff geklaut. Es hatte ihnen beiden gehört. Wut stieg in ihm auf.
In welcher Wüste war er hier eigentlich?
Er fühlte sich ein wenig schwerer als bei Standardgravitation. Sie waren irgendwo im Zentrum des Spindrahl-Sektors unterwegs gewesen – viele Systeme kamen infrage. Hoffentlich hatte sie genug Anstand gehabt und einen bewohnten Planeten für seinen Rauswurf ausgewählt.
Fynn kämpfte sich auf die Beine. Ihm wurde schwindelig und er rang einen Brechreiz nieder.
Endlich stand er stabil.
Er tastete seine Kleidung ab. Was für ein Glück, dass er vollständig angezogen gewesen war, als er das Bewusstsein verloren hatte. Aus der Hosentasche zog er einige Münzen, ungefähr 500 Kredite. Damit würde er nicht weit kommen.
Er vollführte eine langsame Drehung. Überall dieselbe sandige Einöde.
Mit der Hand schirmte er die Helligkeit ab. Am Horizont entdeckte er etwas. Dunkelgrau und eckig. Es war zu weit weg, um Details erkennen zu können. Vielleicht ein Gebäude oder eine Industrieanlage.
Ohne Wasser und Nahrung sollte er keine Zeit verlieren. Fynn wanderte los, setzte einen Fuß vor den anderen. Weil er bei jedem Schritt einige Zentimeter im Sand versank, kam er nur schleppend voran. Hin und wieder krabbelten handtellergroße Lebewesen davon und vergruben sich im Boden. Sie waren so flink, dass er sie kaum erkennen konnte, aber sie hatten eine große Zahl langer Beine.
Er musste gut zwei Stunden marschiert sein, bis das Objekt an Kontur gewann: ein Kasten mit Auslegern, womöglich ein Frachter.
Die orangefarbene Sonne stand schon tief am Horizont, als Fynn sein Ziel erreichte.
Der Kasten entpuppte sich als ein Großraumschiff, vielleicht einen halben Kilometer lang, hundert Meter hoch. Fynn näherte sich von der Antriebsseite. Eine Gruppe von Röhren, jede so groß wie ein Haus, verdunkelte das Licht.
Er schritt an den gigantischen Landebeinen vorbei zur Spitze des Schiffs. In der Ferne wurde eine kleine Stadt mit einer Industrieanlage sichtbar. Sie schien zwar keine Metropole zu sein, aber die Zivilisation hatte ihn wieder. Erleichtert atmete er auf.
Nach einigen Hundert Metern stand er vor einem Gehege mit Tieren. Fynn kannte keine einzige Gattung. Einige Tiere hatten grünes Fell, andere graue Haut, vier, fünf und sechs Beine. Alle wirkten fremdartig. Sie fraßen friedlich schmatzend aus mehreren Trögen.
Vor dem Kopf des Raumschiffs war eine Gruppe von etwa fünfzig Modulquadern im Kreis angeordnet. Jeder war mit blinkenden Lichtern verziert. Ein großes rundes Zelt bildete den Mittelpunkt.
Irgendwoher dudelte Musik.
Ein Wanderjahrmarkt.
Fynn hatte gehört, dass sie in einigen Teilen der Föderation noch unterwegs waren. Er selbst hatte sich nie einen angeschaut. Für diese Art der Unterhaltung hatte er nichts übrig, aber vielleicht gab es weiterhin rückständige Planeten mit genügend Publikum für solch einen Rummel.
Er ließ den Blick über den gut besuchten Festplatz schweifen.
Einige Module am Rand hatten kleine Fenster, wahrscheinlich waren das die Wohneinheiten.
Bei einem anderen war die Seite komplett nach oben geklappt. Ein offenes Feuer im Inneren bildete eine Rauchfahne. Ein rundlicher Mann rührte in einem Topf.
Hunger. Wie lange lag eigentlich Fynns letzte Mahlzeit zurück? Er hatte zwar nicht die geringste Idee, wie es mit seinem Leben weitergehen sollte, doch hungrig wollte er keine Entscheidung treffen.
Er stellte sich in die Warteschlange vor dem Modul.
Es duftete nach exotischen Gewürzen, die er nicht einordnen konnte.
Dann war er an der Reihe.
»Was ist das?«, fragte Fynn misstrauisch.
»Hab ich gerade selbst gekocht. Das Beste, was du jemals gegessen hast«, antwortete der Rundliche.
»Ja, aber was genau ist da drin?«
»Nur natürliche Ingredienzien. Ich bereite meine Suppe traditionell aus den Zutaten zu, die ich auf den jeweiligen Gastplaneten finde. Dazu eine geheime Mischung von Gewürzen. Du wirst noch deinen Enkeln davon erzählen.«
Fynn trat näher heran und beäugte das Innere des Topfes. Darin war eine grüne breiartige Suppe mit braunen Klumpen. Beim Rühren schwammen einige feste Bestandteile kurz an die Oberfläche und verschwanden wieder. Hatte Fynn gerade schwarze Insektenbeine gesehen? Die Krabbeltiere auf dem Hinweg kamen ihm in den Sinn.
»Ich nehme eine Portion.« Er war sich unsicher, aber sein Hunger verdrängte jeden Zweifel.
Der Koch holte einen Teller und kippte den Inhalt einer Kelle darauf. »Zehn Kredite. Lass es dir schmecken.«
Fynn legte eine Münze auf den Tresen und nahm den Teller entgegen.
Er schnupperte daran. Die Mahlzeit duftete gar nicht mal schlecht.
An einem der Stehtische vor dem Modul begann er zu essen.
Die Suppe schmeckte besser, als sie aussah, sehr würzig mit einer süßlichen Note. Einige der Zutaten konnte er nicht identifizieren, vielleicht waren es tatsächlich Teile von Tieren. Beim Kauen knackte es. Egal.
Während er aß, überdachte er seine Situation, sein Leben und seine beiden Probleme.
Das erste waren die Frauen. Viel zu schnell landete er bei ihnen, zu häufig bei den falschen. Er war immer noch fassungslos, dass die letzte ihn einfach ausgesetzt hatte. Die Frau davor war eine Undercover-Ermittlerin gewesen. Das war ihm erst klargeworden, als es fast zu spät gewesen war.
Das eigentliche Dilemma war jedoch seine besondere Fähigkeit.
Fynn war in der Lage, einige Sekunden in die Zukunft zu sehen. Den meisten war das unheimlich, deshalb verbarg er diese Kraft vor der Umwelt. Außerdem reagierte er häufig zu impulsiv und brachte sich in Schwierigkeiten. Einmal hatte er jemandem einen Kinnhaken versetzt, ehe dieser ein Messer ziehen konnte. Niemand hatte das verstanden und am Ende hatte er in einer Gefängniszelle gesessen.
Früher hatte er sein Leben als Wettkampfpilot bestritten. Bei Trianova-Rennen war das Wissen über die nahe Zukunft ein entscheidender Vorteil. Danach hatte er sich mit Glücksspiel über Wasser gehalten, bis fast alle Casinos des Sektors ihn rausgeworfen hatten. Seitdem versuchte er, nicht aufzufallen.
Fynn hatte aufgegessen. Mit dem Handrücken wischte er sich über den Mund.
Er brachte den Teller zum Imbissmodul zurück. »War lecker«, sagte er aufrichtig. Er wollte sich schon umdrehen, dann verharrte er. »Auf welchem Planeten befinde ich mich hier eigentlich?«
Der Koch zog die Augenbrauen hoch. »Komische Frage. Batelor natürlich!«
Fynn nickte langsam.
In Gedanken ging er seine Möglichkeiten durch. Er könnte sich zu einem Raumhafen durchschlagen. Der einzige war in Josset, wenn er sich recht erinnerte. Oder er suchte im Ort nach Arbeit. Dann säße er aber auf unbestimmte Zeit auf diesem Planeten fest.
Er betrachtete gedankenverloren die Besucher des Rummels.
Eine Frau fiel ihm auf, Mitte zwanzig, langes braunes Haar.
Sie näherte sich einer Gruppe von drei Männern in blauen Overalls. Vermutlich waren es Techniker der Industrieanlage.
Sie legte einem der Männer von hinten die Hand auf die Schulter. Er drehte sich erschrocken um. Nein, er kannte sie offensichtlich nicht.
Was dann passieren würde, nahm Fynn schon einige Sekunden vorher wahr. Daher machte er sich sofort auf, der Frau zu helfen.
»Bleib doch!«, sagte der Techniker und grinste selbstbewusst.
»Tut mir leid, hab euch verwechselt«, entgegnete sie.
Er hielt sie am Arm fest.
Sie versuchte vergeblich, sich zu befreien.
Fynn trat hinzu. »Lass sie los!«, sagte er entschlossen.
Der Mann wandte den Kopf, löste seinen Griff aber nicht. »Oder was?«
Fynn atmete durch. Sollte er sich nicht besser aus allem raushalten?
Dafür war es wohl zu spät.
Der Techniker drehte sich wieder zu der Frau.
Fynn wusste, was nun passieren würde. Diesmal war dieser verdammte Zukunftssinn hilfreich.
Die Drehung war nur der vergebliche Versuch des Mannes gewesen, unauffällig zu einem Schlag auszuholen. Sein Haken kam mit voller Wucht. Doch Fynn hatte sich längst geduckt und einen Konter vorbereitet. Seine Faust schoss dem Angreifer in die Rippen unterhalb der Achsel. Der stieß hörbar den Atem aus.
Fynn machte sofort einen großen Schritt nach hinten, denn die beiden anderen Männer hatten zum Angriff angesetzt. Auch deren Schläge kamen zu spät – Fynn war schon außer Reichweite. Er trat einem gegen die Kniescheibe. Ein spitzer Schrei bestätigte, dass der Treffer gesessen hatte.
Der dritte verharrte. Fynn glaubte zu erkennen, wie er sich seine Chancen ausrechnete.
»Was ist hier los?« Ein kleiner Mann mit Glatze fegte heran.
Er stellte sich zwischen die Kämpfer. Alle überragten ihn um mindestens einen Kopf, dennoch strahlte er Autorität aus.
Die Brünette ergriff das Wort. »Die Herren hier waren etwas aufdringlich. Aber ich hatte alles unter Kontrolle, bis dieser Held sich eingemischt hat.« Sie deutete auf Fynn.
»War bloß ein Missverständnis«, erklärte einer der Techniker reumütig.
Der Glatzköpfige breitete die Arme aus. »Alles klar. Geht zu der Bude da drüben und lasst euch auf meine Kosten ein Bier ausschenken. Sagt einfach dem Kollegen, dass der Chef euch eingeladen hat.«
Sie schlurften davon. Der eine stützte sich bei seinem Freund ab und humpelte leicht.
»Was ist passiert?«, fragte der Glatzkopf die Frau, nachdem die Techniker außer Hörweite waren.
»Es war alles in Ordnung, Paps.«
Der Mann drehte sich zu Fynn. »Ich muss dir danken. Meine Tochter strapaziert ständig ihr Glück. Und du bist ...?«
»Fynn Arben, gerade erst auf dem Planeten eingetroffen. Genau genommen bin ich hier unfreiwillig gestrandet.«
»Sehr erfreut. Ich bin das Oberhaupt dieser Truppe. Du kannst mich ›Chef‹ nennen.«
Er wandte sich seiner Tochter zu. »Und was dich betrifft: Rück sofort deine Beute heraus!«
Sie machte eine unschuldige Miene.
Der Chef griff sie am Handgelenk und inspizierte die offene Handfläche.
Seine Tochter lächelte.
Dann fasste er sie an der anderen Hand. Ein Geldbeutel lag darin. »Ribama. Du kannst nicht unsere Kunden beklauen. Geh sofort zu den Typen und gib das zurück. Behaupte einfach, du hättest es nach dem Kampf auf dem Boden gefunden.«
»Paps ...«
»Sofort!«
Sie murmelte einen Protest und trottete davon.
»Gestrandet also«, sagte der Chef nachdenklich. »Frei für ein Engagement?«
Fynn zuckte unsicher die Schultern.
»Unser Kampfbudenbetreiber hat uns beim letzten Stopp im Stich gelassen. Wollte aussteigen, um sich als Bauer zu verwirklichen.« Die Miene des Chefs zeigte Verachtung. »Du scheinst ein gewisses Geschick für den Nahkampf zu haben.«
Fynn ahnte, worauf das Gespräch hinauslaufen würde.
»Dreimal am Tag veranstalten wir Kampfrunden gegen Gebühr«, erklärte der Chef. »Wer dich besiegt, bekommt die Einnahmen der Vorstellung. Aber diese Halbstarken überschätzen sich meistens und wollen nur die Mädels beeindrucken.« Er blickte Fynn erwartungsvoll an.
Fynn grübelte. Dieser Rummel wäre ein geeigneter Unterschlupf – zumindest für eine Weile. Jedoch müsste er die Knochen hinhalten. Das könnte hart werden.
Doch dann dachte er an die braunhaarige Frau und musste sich eingestehen, dass er sich längst entschieden hatte.
Wortlos streckte er die Hand aus.
Der Chef ergriff sie. »Willkommen in unserer Truppe.« Er lächelte herzlich. »Eins noch«, sagte er, ohne Fynns Hand loszulassen. »Finger weg von meiner Tochter!«
2 · Die Stimme im Wind
»Landung einleiten!«, befahl Bruder Pandor.
Er lehnte sich im Sitz zurück und blickte auf den Hauptmonitor, auf dem ein gelber Himmelskörper dargestellt wurde.
Der Planet war genau dort, wo er ihn vermutet hatte.
Außerhalb der Hauptsektoren waren die Stellarkarten unzuverlässig. So sollte sich an dieser Position eigentlich kein Sonnensystem befinden. Dass Bruder Pandor tatsächlich einen Planeten entdeckt hatte, war schon ein Erfolg.
Als Leiter der Expedition hätte er den neuen Himmelskörper taufen dürfen, aber nach solchen Nebensächlichkeiten stand ihm nicht der Sinn.
Nachdem das Raumschiff im Orbit angekommen war, zeigten die ersten Scans auf der ansonsten langweiligen Planetenoberfläche ein einzelnes künstliches Objekt.
Auch das hatte Bruder Pandor erwartet.
Die Atmosphäre war ungiftig und Menschen konnten sich ohne Atemhilfe darin aufhalten. Vielleicht produzierte eine Flechte auf der Oberfläche genug Sauerstoff. Das hatte zumindest der Wissenschaftsbruder der Besatzung vermutet. Höher entwickeltes Leben schien es aber nicht zu geben.
Und dann dieses Objekt. Erstaunlich.
Ein leichtes Ruckeln deutete an, dass das Raumschiff die äußeren Luftschichten durchquerte.
Bruder Pandor blickte auf seine Besatzung aus fünf Brüdern. Sie saßen konzentriert an ihren Pulten.
Sein eigener Platz war erhöht, so, wie es für einen Leitungsbruder angemessen war. »Navigationsbruder, Meldung!«
Der Angesprochene drehte sich um. Ein Mann um die dreißig, groß und hager – die Kutte reichte ihm kaum bis zu den Knien. »Wir nähern uns der Oberfläche«, antwortete er diensteifrig. »Ich plane die Landung einen Kilometer neben dem Objekt.«
»Wieso so weit weg? Lande direkt daneben, oder sollen wir laufen?«
»Ich dachte ...«
»Falsch gedacht.«
Der Navigationsbruder nickte und tippte etwas in sein Pult.
Bruder Pandor fragte sich, womit er diese inkompetente Mannschaft verdient hatte.
Vor zehn Jahren war er dem Orden der Brüder von Notitia beigetreten. Ihm war bald klar, dass er nicht für niedere Arbeiten geboren war. Er wurde der Leitungsbruder einer Abteilung, die sich mit der Suche nach archäologischen Artefakten befasste.
Was er damals als Karrieresprung betrachtet hatte, hatte sich als Sackgasse entpuppt. Niemand wusste so recht, wozu diese Abteilung eigentlich gut war. Bruder Pandor war 38 Jahre alt und längst kein Neuling mehr. Er fragte sich zunehmend, ob er sich verrannt hatte. In einem Orden, dessen Hauptaufgabe darin bestand, die Dateninfrastruktur der Spindrahl-Föderation bereitzustellen, gab es nicht viel Platz für Archäologie.
Es ruckte erneut.
»Wir sind gelandet«, berichtete der Navigationsbruder.
»Das Objekt auf den Hauptmonitor«, befahl Bruder Pandor.
Was er sah, beschleunigte seinen Puls.
Eine ebene Platte von etwa zehn Metern Kantenlänge ragte mehrere Handbreit aus dem unregelmäßigen Wüstenboden heraus. Dem ersten Anschein nach war sie exakt quadratisch. An den vier Ecken befanden sich Obelisken – jeder war vielleicht drei Meter hoch. Ein einzelner Quader markierte die Mitte.
Normalerweise hätte ein Wüstenwind über die Jahre praktisch jedem Gegenstand viele Kratzer zugefügt. Aber alle Oberflächen waren glatt und glänzten grau, als hätte jemand sie ausgiebig poliert.
Bruder Pandor wusste, dass dieses Objekt alt war, sehr alt. Vor Monaten hatte er einen ersten Hinweis auf ein geheimnisvolles Artefakt in historischen Dokumenten gefunden. Er hatte daraufhin die unzähligen Datenströme des Sektors durchforstet. Irgendwann waren ihm die Koordinaten eines unbewohnten Planeten in die Hände gefallen. Er sollte angeblich ein großes Geheimnis bergen.
»Zoom auf den Block in der Mitte«, ordnete er an.
Das Monitorbild zeigte den Quader. An den Seitenflächen wurden geschwungene Symbole sichtbar.
»Was sind das für Zeichen?«
»Unbekannt«, antwortete der Wissenschaftsbruder. Er gab etwas in sein Pult ein. »In unseren Datenbanken gibt es keinen Hinweis auf diese Schriftform. Ich vermute, das Artefakt wurde von einer längst untergegangenen Zivilisation erbaut.«
»Soso, vermutest du.« Bruder Pandor runzelte die Stirn.
Seit die drei Sektoren der heutigen Spindrahl-Föderation vor vielen Tausend Jahren von Menschen besiedelt worden waren, hatte man nach anderen Spezies gesucht. Man hatte zwar viele ungewöhnliche Lebensformen entdeckt, aber keine, die eine zivilisierte Gesellschaft hervorgebracht hatte. Wenn der Wissenschaftsbruder recht hatte, war diese Entdeckung der erste Beweis für eine fremde Kultur. Euphorie breitete sich in Bruder Pandor aus. »Sicherheitsbruder. Geht Gefahr von dem Objekt aus?«
Der Bruder drehte sich um. Seine Kutte verhüllte kaum, dass er mehr Muskeln besaß als ein gewöhnliches Ordensmitglied. Genau der Richtige für diese Funktion, obwohl es selten zu einer körperlichen Auseinandersetzung kam.
»Es tut mir leid.« Er schien um Worte zu ringen. »Ich kann das Material mit unseren Sensoren nicht durchleuchten. Falls es eine Technologie im Inneren gibt, erkenne ich sie nicht. Ich weiß nur, dass der Planet selbst harmlos ist, die Luft ist atembar. Ich finde keine Hinweise auf schädliche Pflanzen oder Tiere.«
Bruder Pandor ärgerte sich. Wozu nahm er diese Brüder eigentlich mit, wenn sie in der entscheidenden Situation nur Offensichtliches von sich gaben? »Hintere Klappe öffnen! Die Brüder für Sicherheit, Technik und Wissenschaft begleiten mich. Die für Gesundheit und Navigation bleiben an Bord.«
Motoren surrten, dann hallte ein metallischer Rums durch den Raum.
Wie es seinem Stand entsprach, hatte Bruder Pandor Vorrang beim Betreten eines neuen Planeten. Er ging die Rampe hinunter. Am Boden hielt er kurz inne. Bedächtig machte er die ersten Schritte auf dem fremden Himmelskörper. Seine Sandalen versanken ein wenig im Sand. Er blickte zum Horizont, der sich einige Kilometer entfernt scharf gegen den dunkelblauen Himmel abzeichnete. Die gelbe Wüste war flach, abgesehen von unzähligen kleinen Dünen, die ein Muster bildeten wie Wellen auf einem Ozean.
Der Wind rauschte. Bruder Pandor atmete tief ein. Die Luft roch stechend nach einer unbekannten Chemikalie. Hoffentlich hatte der Sicherheitsbruder recht und die Atmosphäre war tatsächlich ungefährlich. Rechts erblickte Bruder Pandor das Artefakt mit den vier Obelisken und dem Block in der Mitte. »Kommt schon!«, rief er in die Luke.
Die drei Brüder kamen nacheinander herunter und stellten sich in einer Reihe vor ihm auf.
»Wir schauen uns jetzt das Objekt an. Seid unbedingt wachsam! Wir wissen nicht, was uns erwartet. Macht mit den Handscannern so viele Messungen wie möglich.«
Alle nickten synchron.
Bruder Pandor deutete auf das Objekt und sie setzten sich in Bewegung.
Der Wissenschaftsbruder holte sein Messgerät hervor und tippte etwas ein.
Bruder Pandor betrat den quadratischen Platz. Wieder hielt er inne. Er spürte erneut Euphorie. Dieses Artefakt war vielleicht das Eigentümlichste, das jemals in diesem Teil der Galaxis entdeckt wurde. Und zwar von ihm.
Er betrachtete es genauer. Die vier Obelisken waren schlicht gestaltet: einfache Flächen ohne Muster an der Seite. Der Boden war perfekt eben und so glatt geschliffen, dass sich der Himmel darin spiegelte. Keine einzige Fuge störte die Vollkommenheit.
Bruder Pandor näherte sich dem Block in der Mitte – nach erstem Anschein ein absolut regelmäßiger Würfel mit einer Kantenlänge von etwa einem Meter.
Die rätselhaften Symbole waren eingraviert und bestanden aus mehreren geschwungenen Linien, die mit kleinen Kreisen endeten. Bruder Pandor dachte angestrengt nach, doch solche Formen hatte er nie zuvor gesehen.
Er begutachtete die obere Fläche. Exakt in der Mitte ragte eine kreisrunde Erhebung ein paar Zentimeter heraus, groß wie ein Handteller. Vielleicht war das eine Art Schalter. Er streckte den Arm aus.
»Bitte nichts berühren!«, sagte der Wissenschaftsbruder. »Wir wissen immer noch nicht, womit wir es hier zu tun haben.«
Bruder Pandor schaute ihn verärgert an. Entschlossen legte er die Hand auf die runde Fläche.
Zuerst geschah nichts. Dann ertönte ein Brummen, das stetig lauter wurde.
Die Brüder sahen sich irritiert um.
Nach einigen Sekunden verstummte der Ton.
»Onato Chok Tam Kronato«, sagte ein unsichtbarer Sprecher mit sonorer Stimme.
»Was soll das bedeuten?«, murmelte Bruder Pandor.
»Chok Chok Kronato Tam.«
Er blickte zum Wissenschaftsbruder, aber der zuckte nur die Schultern.
Der Technikbruder hob seinen Scanner. »Ich erfasse eine drahtlose Kommunikation. Irgendjemand baut eine Datenverbindung zu unserem Schiff auf. Es gibt einen intensiven Austausch an Informationen.«
»Linguistikdaten heruntergeladen, Sprachmodell angepasst«, verkündete der unbekannte Sprecher nach einigen Augenblicken. »Ich melde, dass mir eine externe Energiequelle fehlt. Meine Möglichkeiten sind derzeit eingeschränkt.«
Der Wissenschaftsbruder beugte sich zu Bruder Pandor. »Ich vermute, das ist ein Sprachinterface«, flüsterte er. »Möglicherweise gibt es eine Technologie, die verbal gesteuert werden kann.«
»Guten Tag, Artefakt«, sagte Bruder Pandor laut und bereute es sofort. Das waren nicht die ersten Worte gewesen, mit denen er in die Geschichte eingehen wollte.
»Ich erkenne, dass seit meiner letzten Aktivierung eine lange Zeit vergangen ist. Es tritt damit die Direktive eins in Kraft«, berichtete das Artefakt nüchtern. »Darf ich fragen, wieso ihr eine neue Sprache vorzieht?«
»Wie meinst du das?«
»Die letzten Meister haben eine andere Kommunikationsform verwendet. Seid ihr überhaupt Meister?«
Bruder Pandor überlegte. Seine nächsten Worte waren womöglich entscheidend.
»Ja, natürlich. Wir sind Meister«, log er, ohne ein Anzeichen von Unsicherheit.
Einige Sekunden lang herrschte Stille. Hatte er etwas Falsches gesagt?
»Was ist aus den alten Meistern geworden?«, erkundigte sich das Artefakt.
»Sie haben uns als Nachfolger erkoren und sind gegangen.« Wieder kam Bruder Pandor die Lüge leicht über die Lippen.
»Verzeiht mir meine Zweifel. Ihr seid zu viert, genau wie die alten Meister. Und ich erkenne eine starke Bindung zwischen euch. Aus eurem Verhalten schließe ich, dass ihr einer Bruderschaft angehört. Selbstverständlich seid ihr Meister.«
Bruder Pandor atmete hörbar aus.
»Ich habe eure Lebenssignaturen registriert«, sprach das Artefakt. »Fortan nenne ich euch ›die neuen Meister‹. Aber weshalb habt ihr mich aktiviert?«
»Na ja ...« Bruder Pandor suchte Blickkontakt zum Wissenschaftsbruder. Der zuckte nur erneut die Schultern. Konnte dieser Versager eigentlich überhaupt nichts Nützliches beitragen? »Wir möchten, dass du das machst, was du immer machst. Du weißt schon.«
»Meinst du, ich soll einen Realitätssprung durchführen?«
Was sollte das wieder bedeuten? Bruder Pandor machte eine ungeduldige Handbewegung in Richtung des Wissenschaftsbruders.
Wie erwartet war der immer noch nicht hilfreich. Statt zu antworten, tippte er auf seinem Sensorgerät herum.
Bruder Pandor wollte die Geduld des Artefaktes nicht überstrapazieren. »Selbstverständlich, genau das wollen wir!« Hoffentlich war dieser Realitätssprung nichts Gefährliches.
»Nun, wie eingangs erwähnt«, meinte das Artefakt, »bin ich mit keiner externen Energiequelle verbunden und meine interne hat bei Weitem nicht genug Leistung für solch eine Aktion.«
So kamen sie nicht weiter. Außerdem wollte Bruder Pandor sein Glück nicht herausfordern. Er schloss die Augen. Nach schier endlosen Momenten traf er eine Entscheidung.
»Artefakt. Wir werden dich später an eine externe Energiequelle anschließen. Jetzt befehle ich dir, dich zu deaktivieren.«
»Bestätigt«, war die knappe Antwort.
Nichts weiter passierte.
»Artefakt?«, fragte Bruder Pandor zur Sicherheit.
Keine Reaktion.
»Alles hergehört. Wir schaffen das gesamte Objekt zum Orden. Es passt locker in den Laderaum.«
Der Technikbruder schaute verdutzt. »Wie soll das gehen?«
»Wir haben genügend Geräte für eine Bergung an Bord. Das bekommt ihr hin. Und wenn jeder von euch das Ding mit einer Schaufel ausgräbt. Also los!«
Bruder Pandor betrachtete mit großer Zufriedenheit, wie sich die anderen Brüder kurz besprachen und dann im Schiff verschwanden. Ja, das würden sie hinbekommen.
Was ihn aber betraf: Er war sich sicher, dass dieser Tag in die Geschichte des Ordens eingehen würde. Auf ewig würde man die Entdeckung mit seiner Person verknüpfen.
© J. R. Tarson – Nur zur Ansicht. Keine Vervielfältigung. jrtarson.de